Der Mond in der Gosse

Frankreich | Italien, 1983

Originaltitel:

La lune dans le caniveau

Alternativtitel:

A Lua na Serjeta (BRA)

La luna en el arroyo (ESP)

Lo specchio del desiderio (ITA)

A Lua na Valeta (POR)

The Moon in the Gutter (USA)

Deutsche Erstaufführung:

20. September 1984

Inhalt

Irgendwo. Irgendwann.

 

Jede Nacht kehrt Gérard (Gérard Depardieu) an die Stelle zurück, an der sich seine Schwester nach einer Vergewaltigung mit einem Rasiermesser selbst die Kehle durchschnitt. Ihr Blut hat sich als ewiges Mahnmal wie ein leuchtender roter Lavafluss in den kalkigen Bordstein gefressen.

 

Auf der ständigen Suche nach dem Vergewaltiger, der die fatale Verzweiflungstat auslöste, trifft Gérard eines Nachts in einer ranzigen Kaschemme auf den reichen Newton (Vittorio Mezzogiornio), der im Suff bizarre Wetten abschließt.

 

Als dessen Schwester Loretta (Nastassja Kinski), lange nach der Sperrstunde, ihren längst an den Alkohol verlorenen Bruder mit ihrem roten Ferrari abholen will, verfällt Gérard der Schönheit augenblicklich – sehr zum Unmut seiner Geliebten Bella (Victoria Abril), die ihn abgöttisch liebt.

 

Hin und her gerissen zwischen zwei schönen Frauen, muss er sich auch noch um seinen ebenfalls an der Flasche hängenden Bruder Frank (Dominique Pinon) und seinen dahindriftenden Vater kümmern. Alles droht zu dem Zeitpunkt zu eskalieren, an dem Gérard beschließt Loretta in einer abgelegenen Klosterkirche zu ehelichen und Bella in einem Anfall ungebremster Eifersucht zwei Killer aussendet, ihren Liebhaber zu töten.

Review

Es gibt Filme, welche wohl ständig im Schatten anderer Werke ihrer Macher stehen werden. Manche von ihnen werden lediglich an den Rand gedrängt, andere verschwinden beinah ganz und sind nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten ein Begriff.

 

Mit dem stylischen, 1981 erschienenen, Thriller „Diva“ schuf der Franzose Jean-Jaques Beineix einen Kultfilm der frühen 80er, der nicht nur perfekt den Zeitgeist einer anbrechenden Epoche widerspiegelte, sondern auch Elemente der den Realitätsanspruch der ausklingenden Nouvelle Vague mit einem dermaßen überbordenden Sinn für fantasievolle Bildkomposition kreuzte, um als Hybrid ein schnell von französischen Kritikern als Cinéma du look betiteltes Genre zu schaffen, in das sich auch Werke von Beineix Mitstreitern Luc Besson und Leos Carax eingliedern ließen.

 

Tatsächlich basiert auch „Der Mond in der Gosse“ auf einem Kriminalroman des Amerikaners David Goodis, dessen Werke bereits ebenfalls von französischen Regiegrößen wie René Clément und François Truffaut zuvor brillant verfilmt wurden. Goodis wird zu den wichtigsten Autoren des Film noirs gerechnet, ein Genre, welches wiederum immer in Verbindung mit der Nouvelle Vague gebracht wurde – womit sich der Kreis wieder schließt. Wie in der Literaturvorlage, welche in einem Armutsviertel einer dort klar als amerikanisch identifizierbare Hafenstadt spielt, geht es auch Beineix mehr um eine Milieustudie und eine Darstellung verlorener Seelen, wie dies auch in einigen Hauptwerken der Schwarzen Serie immer wieder der Fall war.

 

Beineix schafft jedoch eben mehr als nur einen weiteren Neo-Noir – er schafft einen Neon-Noir, einen in einer surrealen, im Neonlicht flimmernden, Parallelwelt angesiedelten Kriminalfilm, dessen buchstäbliches „Whodunit?“ am Ende fast untergeht und zweitrangig gegenüber dem Stil der Inszenierung wird. Allerdings liefert der Film dann tatsächlich doch noch gegen Ende eine (mögliche) Auflösung, welche dem Zuschauer einen weiteren Schlag in die Magengrube versetzt, bevor eine weitere allerletzte überraschende Wendung diesen Film dann auch inhaltlich unvergesslich macht.

 

Zum rundum positiven Endeindruck tragen natürlich auch die überragenden Darsteller bei. Depardieu war zur Mitte der 80er Jahre auf der Höhe seines Schaffens und zumindest in seiner Heimat kurz davor ein unantastbarer Superstar noch fern von allen Skandalen zu sein.

 

Nastassja Kinski hatte sich in Polanskis „Tess“ und Paul Schraders Remake von „Katzenmenschen“ einen Namen gemacht, der charismatische Vittorio Mezzogiorno sollte Lesern dieser Seite durch seine Hauptrolle in Mario Caianos „Die letzte Rechnung schreibt der Tod“ und aus Eriprando Viscontis „La orca“ vielleicht ein Begriff sein.

 

Die tollen Sets - gefilmt wurde in den heiligen Hallen Cinecittàs und dem Hafen von Marseille - fotografiert von Oscarpreisträger Philippe Rousselot, die zahlreichen, grandiosen Regieeinfälle und der famose Score des ebenfalls später mit einem Oscar geadelten Beineix-Dauerkollaborateurs Gabriel Yared machen den Film zu einem leider vollkommen übergangenen Meisterwerk des europäischen Films, welches endlich eine Wiederentdeckung verdient hätte.

 

Leider teilte man dem Regisseur vonseiten des produzierenden Studios Gaumont mit, dass anders als im Fall des populäreren Liebesdramas „Betty Blue“, eine angedachte Rekonstruktion eines etwa vierstündigen Director‘s Cuts unmöglich sei, habe man doch alle Schnittreste des Films bereits vernichtet.

 

So bleibt mir nur übrig, auf eine anständige, hiesige Veröffentlichung der Kinofassung zu hoffen, damit dieses übersehene Kleinod endlich aus dem Schatten der ebenfalls sehr schönen Beineix-Werke „Diva“ und „Betty Blue – 37, 2 Grad am Morgen“ treten kann.

 

Wer also in diesem etwas unbefriedigenden Sommer einen perfekten, wehmütigen Film für einen schwülen Abend bei geöffnetem Fenster sucht, dem sei dieser Abstieg in eine Welt empfohlen, in der es nur Verlierer geben kann. Eine Welt, die beschienen wird von kaum wahrnehmbar pulsierenden Leuchtstoffröhren, um die todessehnsüchtige Motten kreisen und das Blut auf den Gehwegen nur durch Alkohol und die eigenen verschrobenen Träume vor Augen zu verwischen beginnt.

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