Der Sittlichkeitsverbrecher

Schweiz, 1963

Originaltitel:

Der Sittlichkeitsverbrecher

Alternativtitel:

The Molesters

Deutsche Erstaufführung:

1963

Regisseur:

Franz Schnyder

Kamera:

Emil Berna

Inhalt

Während eine Mutter beim Einkaufen ist, lässt sie ihre fünfjährige Tochter vor einer Tierhandlung warten. Der Besitzer der Tierhandlung bittet sie herein, um ihr ein paar junge Hundewelpen zu zeigen. Doch Gefahr droht nicht von ihm. Während er sich kurz im Hinterzimmer befindet, kommt ein unbekannter Fremder ins Geschäft und überredet das kleine Mädchen ihm zu folgen.

 

In einem kleinen Dorf vergeht sich Fritz Stamm, Sohn eines vor seinem Tod sehr angesehen Gemeindemitglieds, an der kleinen Anneli Hofer aus dem Nachbardorf. Das Kind berichtet ihren Eltern davon, doch sie zeigen den Täter nicht an. Ein Fehler, wie sich zeigt, denn Fritz Stamms Mutter hat sich auf eine Annonce hin bereit erklärt, die 11jährige Claudia aus der Stadt als Ferienkind bei sich aufzunehmen.

 

Der Textilfabrikant Singer wird beschuldigt, sich an einem heranwachsenden Jungen vergangen zu haben. Zunächst scheint das Gericht die Tat nicht eindeutig beweisen zu können, doch als die Polizei darauf aufmerksam wird, dass ein ehemaliger Angestellter Singer erpresst, zieht sich die Schlinge zu.

 

Die 14-jährige Karin wächst bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater auf, dem Karin sehr zugetan ist. Doch dieser scheint sich vor körperlicher Nähe zu seiner Stieftochter regelrecht zu fürchten und ist auch nicht gern mit ihr allein. Als Karins Mutter wegen einer Inventur erst sehr spät nach Hause kommt wird, kann der Stiefvater – nachdem er Karin in der Badewanne gesehen hat – nicht mehr an sich halten und verliert die Kontrolle. Die Beiden bewahren Schweigen über den Vorfall, doch Karin wird schwanger.

Review

Nach dem Erfolg von Ladislao Vajdas Dürrenmatt-Verfilmung „Es geschah am hellichten Tag“ mit Gert Fröbe und Heinz Rühmann, sowie der Tatsache, dass sich von Kriegsende bis 1962 eine Unzahl von mehr als hunderttausend Sittlichkeitsverbrechen in der Schweiz zugetragen hatten, inszenierte Regisseur Franz Schnyder diesen recht ambitionierten Film nach einem Drehbuch von Richard Schweizer und Wolfgang Menge. Die vier gezeigten Fälle sollen hierbei auf realen Straftaten beruhen. Da bei dieser Besprechung die US-Fassung eine wesentliche Rolle spielt, sei hier schon mal die DVD-Fassung von Something Weird Video unter dem Titel „The Molesters“ erwähnt.

 

In der ersten Episode geht es gleich düster zu, denn die Polizei kommt zu spät, ein kleines Mädchen wurde vergewaltigt. In dieser Episode geht es hauptsächlich um die Ermittlungsarbeit, insbesondere um das akribische Vorgehen der Spurensicherung und um die Art der Befragung des Opfers. Potenzielle Täter sollten durch diese Episode wohl abgeschreckt werden, denn es wird mehr als deutlich, wie viele Spuren ein Sexualstraftäter - trotz Vorbereitung auf seine Tat - am Tatort zurück lässt. Weiterhin gibt es einen kurzen Einblick in das Strafrechtssystem der Schweiz bei Sexualstraftaten. Hier ist interessant, dass noch vor Beginn des Prozesses die Zurechnungsfähigkeit des Täters durch die Staatsanwaltschaft geprüft wird, da diese für die Art der Strafe relevant ist. Daraufhin folgt noch ein kurzer Ausflug in die Freuden der freiwilligen operativen Kastration und welches Glück diese für so manchen Triebtäter darstellt. Na, ja. Alles in allem eine sehr dokumentarische Episode.

 

Vor der zweiten Geschichte wartet die US-Fassung „The Molesters“ mit ein wenig überflüssigem aber recht unterhaltsamem Fremdmaterial auf. Vergewaltigung passt ja noch, aber seit wann in aller Welt sind Masochismus oder Sadismus Straftaten? Die Dame in betreffender Masochismus-Szene musste für diesen Bikini einfach bestraft werden. Was dagegen der Herr verbrochen hat, der mit lautem Klatsch-Klatsch den Allerwertesten von einer herben Kurzhaar-Grazie mit Kippe im Mund verdroschen bekommt, wissen wir nicht. Und Fetischismus? Na gut, badenden Frauen die Schlüpfer zu mopsen ist natürlich schon ein klein wenig Diebstahl, aber meine Güte, merkt doch keiner. Exhibitionismus ist klar, man darf Spaziergängerinnen im Wald nicht einfach seinen Schniepel zeigen, ist nicht nett, das macht man nicht. Bei der Szene zum Thema Vergewaltigung dagegen – eine Frau wird vom Fahrrad gerissen und ins Unterholz gezerrt – ist dagegen unklar, ob es sich wirklich um Fremdmaterial oder um eine Deleted Scene des Originalfilms handelt. Hier wird auch gerade die folgende Episode interessant.

 

Episode 2 handelt davon, wie das Schweigen in der Bevölkerung – auch betroffener Eltern – zu weiteren Verbrechen führen kann. Und hier versagt die Schweizer Fassung, was die Gesamtstimmung des Films betrifft. In einem dramatischen Moment gelingt es dem Täter, das elfjährige Ferienkind Claudia an sich zu bringen, während seine eigene Mutter inzwischen die Polizei wegen der Vergewaltigung ihres Sohnes an der kleinen Anneli aus dem Nachbardorf anzeigt. Der Täter – Fritz Stamm – befindet sich mit Claudia auf einer Kirmes, doch die Polizei taucht auf und Fritz flüchtet mit seinem Opfer in einem Jeep, verfolgt von einem Beamten auf einem Motorrad. Happy End. Nicht so in der US-Fassung. Hier wurde Alternativmaterial verwendet, das vom Schweizer Produzenten abgelehnt wurde, welches aber besser zur düsteren Grundstimmung passt. Nicht alles, aber ein Großteil des von Franz Schnyder gedrehten Alternativmaterials findet hier Verwendung. Kein Happy End weit und breit, es wird unschön.

 

In der dritten Geschichte betreten wir die Welt des Gerichtssaals und erfahren, wie schwierig es mitunter ist, eine Sexualstraftat eindeutig nachzuweisen. Zudem wird der Aussage eines minderjährigen Opfers nicht allzu große Bedeutung beigemessen. Leider kommt diese Episode nicht ohne ein paar Klischees gegenüber Homosexuellen aus.

 

Im vierten und letzten Fall ein sehr typisches Szenario. Hier kommt der Täter aus dem familiären Umfeld des Opfers, was – wie zuvor anhand eines Kreisdiagramms erläutert – in mehr als 63 Prozent aller Fälle von Kindesmissbrauch der Fall ist. Nachdem die Tochter durch ihren Stiefvater schwanger wurde, soll sie die Tat einem Schulfreund in die Schuhe schieben, der in sie verliebt ist. Als sie sich weigert und die Mutter die Polizei einschaltet, kommt es fast zu einem Mord, und wenn jemandem einfällt, in welchem „Report-Film“ die Geschichte später verbraten wurde, sagt Bescheid. Ich kenne das Ding irgendwoher, einschließlich der Auflösung. Oder vielleicht eher bei „Stahlnetz?“

 

Alles in allem ist „Sittlichkeitsverbrecher“ ein recht atmosphärischer und spannender Film. Er begeht nur selten den Fehler, in klischeehafte Sechziger-Dramatik abzurutschen, wie etwa Cyril Frankel, der 1960 in „Vertraue keinem Fremden“ (Never Take Sweets from a Stranger) seinen ganzen – eigentlich recht gelungenen – Film komplett durch die Art der Figur des Täters ruiniert hat. Franz Schnyders „Sittlichkeitsverbrecher“ präsentiert dagegen glaubhafte Charaktere, einzig unpassend – wie bereits erwähnt – das Ende von Episode 2. Erwähnt sei noch die gute Filmmusik, eines der seltenen Beispiele, wo die Zither verwendet wurde. Da fielen mir als andere Werke auf Anhieb nur Orson Welles „Der dritte Mann“ (1949) und „Breaking Point“ (1975) von Bo Arne Vibenius ein.

 

Zur US-Fassung sei noch angemerkt, dass dort der recht freundlich und verbal abwechslungsreich modulierende Erzähler des Schweizer Originals durch eine beängstigend depressiv klingende Dame ersetzt wurde, die sich vermutlich gleich im Anschluss an ihren Kommentar frustriert den Schädel weggepustet hat.

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