Rocco und seine Brüder

Frankreich | Italien, 1960

Originaltitel:

Rocco e i suoi fratelli

Alternativtitel:

Rocco e Seus Irmãos (BRA)

Rocco y sus hermanos (ESP)

Rocco et ses frères (FRA)

Rocco and His Brothers

Deutsche Erstaufführung:

14. April 1961

Regisseur:

Luchino Visconti

Musik:

Nino Rota

Inhalt

„Vincenzo“ – Vincenzo Parondi (Spiros Focás), vor einiger Zeit vom Süden (Lukanien) nach Mailand gekommen, feiert gerade seine Verlobung mit Ginetta (Claudia Cardinale) und deren Familie, als seine eigene Familie – nach dem Tod des Vaters – in Mailand ankommt. Rosaria Parondi (Katina Paxinou) erwartet, dass Vincenzo sich um sie und seine Brüder kümmert und überwirft sich sofort mit Gianettas Familie. Die Verlobung scheitert, und es kommt zunächst zu einer Familienfehde zwischen den Brüdern Gianettas und den Parondi-Brüdern. Erst später, nachdem Gianetta nach heimlichen Treffen mit Vincenzo schwanger wird, kommt es zur Hochzeit.

 

„Simone“ – Simone (Renato Salvatori) ist der stärkste der Brüder, versucht sich im Boxsport, gemeinsam mit dem jüngeren Rocco. Doch er ist langsam und psychisch labil, obendrein verliebt er sich in die Prostituierte Nadia (Annie Girardot). Er begreift nicht, dass er für Nadia nur eine Affäre ist. Rocco arbeitet neben dem Boxtraining in einer Reinigung - zusammen mit zahlreichen jungen Frauen – die der alleinstehenden Luisa (Suzy Delair) gehört. Simone beginnt eine Affäre mit Roccos Chefin, aber nur um deren Schmuck zu stehlen, den er dann Nadia schenkt. Doch Nadia übergibt den Schmuck an Rocco und lässt ihn an Simone ausrichten, dass sie die Stadt verlässt und Simone nie wiedersehen will.

 

„Rocco“ – Während der Aufregung um den Diebstahl an Roccos (Alain Delon) Chefin, wird dieser zur Armee einberufen und im Süden stationiert. Nach 14 Monaten trifft er dort auf Nadia, die während dieser Zeit im Gefängnis war. Die Beiden verlieben sich ineinander und schmieden Zukunftspläne, und nach Ende von Roccos Wehrdienst folgt sie ihm zurück nach Mailand. Rocco trifft dort gerade noch rechtzeitig zur Taufe von Gianettas und Vincenzos gemeinsamen Kind ein. Simone erfährt durch seinen Freund Ivo (Corrado Pani) von dem heimlichen Verhältnis von Rocco und Nadia. Man lauert den Beiden auf und Simone vergewaltigt Nadia vor Roccos Augen, was in einem heftigen Faustkampf zwischen den beiden Brüdern endet.

 

„Ciro“ – Nach dem Kampf verlässt Rocco das gemeinsame Zuhause und quartiert sich bei Vincenzo und Gianetta ein. Und er trifft eine kuriose Entscheidung: Nadia soll wieder zurück zu Simone, da dieser ohne sie nicht leben könne und ihre Hilfe bräuchte. Simone und Nadia kommen trotz deren Hass auf ihn tatsächlich wieder zusammen, da Nadia ihr Leben nach Roccos Zurückweisung inzwischen gleichgültig geworden ist. Künftig lebt auch Nadia – sehr zu Mutter Rosarias Missbilligung – in der Wohnung der Parondis. Ciro (Max Cartier) hat nach dem Besuch einer Abendschule eine gut bezahlte Arbeit bei Alfa Romeo bekommen, wovon die Parondis gut leben können, neben geringen Nebeneinkünften durch Gelegenheitsarbeiten. Nur Simone stürzt sich zunehmend in Schulden, Rocco will ihm helfen, doch Ciro ist dagegen und glaubt nicht, dass man Simone noch helfen kann, indem man hinter ihm aufräumt. Rocco hat einen großen Boxkampf, der ihm internationale Anerkennung bringen kann, wenn er diesen gewinnt, und während er im Ring steht, erreicht Simone endgültig den Tiefpunkt. Nadia, die ihn inzwischen verlassen hat, arbeitet wieder als Prostituierte. Simone will sie konfrontieren, sieht sie mit einem Freier, und als Nadia vor ihm davonlaufen will und er sie einholt, schildert sie ihm all ihren Abscheu gegen ihn. Simone tötet Nadia mit mehreren Messerstichen.

 

„Luca“ – Während Roccos Siegesfeier in der Wohnung der Parondis klingelt Simone dann mit Nadias Blut überströmt an der Tür. Er gesteht, und wieder will Rocco alles für ihn in Ordnung bringen, fühlt sich sogar mitschuldig. Anscheinend will er die Beweise vernichten und Nadias Leiche in den Fluss werfen, um Simone zu schützen, doch dazu kommt es nicht. Ciro geht zur Polizei und verrät Simone. Luca (Rocco Vidolazzi) – der jüngste der Brüder - versteht die Handlungsweise Ciros zunächst nicht, doch in einem Gespräch erklärt Ciro ihm, dass Simone für das, was er getan hat, zur Verantwortung gezogen werden musste. Denn Simone habe sich zu so einem schlechten Menschen verändert, dass er selbst dazu nicht fähig sei. Und Rocco sei zu gutherzig und habe das deshalb ebenfalls nicht verstanden. Luca würde womöglich eines Tages als Einziger in ihre Heimat im Süden zurückkehren.

Review

„Rocco und seine Brüder“ ist ein komplexes, dreistündiges Drama mit zwei netten Gewaltspitzen, inspiriert von Personen und Motiven des Buches „Il ponte della Ghisolfa“ von Giovanni Testori und einer Titelanspielung auf Thomas Manns „Josef und seine Brüder.“ Zudem finden sich Kain und Abel-Referenzen, nur dass Kain diesmal nicht Abel erschlägt sondern die Frau, die sich beide geteilt haben.

 

Ausgangspunkt ist ein typisch italienisches Szenario dieser Zeit, die Immigration vom Land in die Stadt, vornehmlich aus dem Süden und wie man auf diese Einwanderer herabsah, sie für Gelegenheitsarbeiten ausbeutete und als „Dreckschaufler“ bezeichnete. In diesem Zusammenhang nimmt Visconti auch auf eine damals gängige Praxis Bezug, die gesetzliche Hintergründe hatte: Südländer quartierten sich in Wohnungen ein, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten. Denn erst nachdem sie irgendwann das Zahlen der Miete einstellten und der Vermieter ihnen kündigte, hatten sie ein Anrecht auf eine neue Unterbringung auf Kosten der Stadt, bis (oder falls) sie es selbst zu Geld gebracht hatten. Aber erst mal musste irgendein Hausbesitzer sie gekündigt haben, um solch eine Unterbringung auf Stadtkosten zu bekommen.

 

Dabei handelt es sich bei dieser ersten Wohnung der Parondis nur um ein Untergeschoss, in dem alle Familienmitglieder in einem Raum schlafen. Hier gibt es ziemlich zu Anfang auch eine schöne Szene, in der die Brüder sich früh morgens für die Arbeit fertigmachen, im Raum ist es eiskalt, draußen ist es noch Dunkel, und es fällt Schnee – der erste Schnee, den die Parondis in ihrem Leben zu Gesicht bekommen. Die Arbeitsteilung der Parondis ist pragmatisch, zukunftsorientiert und durchdacht. Die Mutter kümmert sich um den Haushalt, die Söhne sollen das Geld nach Hause bringen. Vincenzo – der Älteste – ist bereits etabliert und arbeitet auf dem Bau. Simone – der Stärkste – soll Boxer werden. Rocco – zurückhaltend, gutmütig, und naiv - schafft es, vermutlich auch aufgrund seines guten Aussehens kombiniert mit Bescheidenheit, einen Job in einem Geschäft mit lauter Frauen zu bekommen. Ciro, der Einzige mit einem Schulabschluss, darf sich neben Gelegenheitsarbeiten an der Abendschule weiterbilden. Er soll in der Zukunft Hauptverdiener der Familie werden, und das Konzept geht auf. Der noch jugendliche Luca macht, was man in seinem Alter eben tun kann um Geld zu verdienen, Botengänge, Zeitungen austragen, usw.

 

Ein weiteres interessantes und Visconti-typisches Element wird man in der deutschsprachigen Fassung womöglich gar nicht bemerken: den Akzent der Parondis. Visconti hatte ja bereits „Die Erde bebt“ (1948) komplett im Dialekt gedreht, so dass sogar für die italienischen Zuschauer ein Erzähler nötig war, damit die überhaupt mitbekommen, was da vor sich geht. In „Rocco und seine Brüder“ ist es nicht ganz so präsent, aber in der Originaltonfassung bemerkt man zu Anfang, dass die Parondis große Verständigungsprobleme mit den Städtern in Mailand haben, die sich erst mit der Zeit geben.

 

Doch die Familie bekommt Probleme, und alles hat irgendwie mit Frauen zu tun: Vincenzos Beziehung zu Gianetta, das große Mundwerk der Mutter Rosaria, dass zu einer Fehde mit Gianettas Familie führt, Simones Liaison mit der Prostituierten Nadia und deren spätere Gefühle für Rocco. Und genau dieser Rocco, gespielt von Alain Delon, ist ein Mysterium, dass man als Zuschauer erst mal Begreifen muss, um seine seltsamen Handlungsweisen zu verstehen. Zunächst werden gerade Alain Delon-Fans etwas enttäuscht sein, denn Rocco agiert fast die ganze erste Stunde des Films sehr im Hintergrund. Er ist eben der unauffällige, bescheidene Typ. Er wollte anscheinend als Einziger nie aus dem Süden weg, und der Zusammenhalt der Familie geht ihm über alles. Als er Nadia während seiner Militärzeit trifft, verleiht er ihr durch seinen Glauben an das Gute erstmals Hoffnung auf eine Zukunft und ein normales Leben. Doch dann, nach der Vergewaltigung Nadias durch Simone – in Roccos Gegenwart – hält er zu seinem Bruder. Zumindest nachdem die Beiden sich gegenseitig halbtot geschlagen haben. Er weist Nadia zurück und will, dass sie zu seinem Bruder Simone zurück kehrt. Somit zerstört er wieder Nadias Hoffnung und den Glauben, den er – Rocco – ihr gegeben hat.

 

Und hier ist DAS Highlight des Films: Annie Girardot. Während Claudia Cardinale zwar mit ihren 22 Jahren nett anzusehen ist und „Rocco und seine Brüder“ auch ein wichtiges Sprungbrett für ihre Karriere gewesen sein durfte, hat sie eine bemerkenswert kleine Rolle und wird im Vorspann auch nur gesondert erwähnt. Besondere Performance verlangt ihre Rolle nicht. Die starke weibliche Hauptrolle dieses Films hat dagegen Annie Girardot, und auch für sie war „Rocco und seine Brüder“ ein Meilenstein. Natürlich war Annie Girardot auch in späteren Jahren eine hervorragende Darstellerin, aber es fällt schwer, diese schöne, leidenschaftliche Figur der Nadia mit der kleinen und später eher etwas rundlichen Frau mit den kurzen, roten Haaren in Verbindung zu bringen, als die man Girardot eben kennt. Ich habe sie jedenfalls beim Anschauen von „Rocco und seine Brüder“ gar nicht erkannt, obwohl ich ihren Namen im Vorspann natürlich gesehen habe.

 

Ich glaube, Visconti hatte hier ein Faible für kuriose Besetzungsentscheidungen. Neben der ungewohnten Rolle für Alain Delon und seiner meisterhaften Führung von Annie Girardot (kombiniert mit der Vernachlässigung der schönen Claudia Cardinale), lässt er die Mutter der süditalienischen Familie Parondi von der Griechin Katina Paxinou spielen, die man z. B. in frühen Klassikern wie „Wem die Stunde schägt“ (1943), „Jagd im Nebel“ (1945) oder Orson Welles‘ „Herr Satan persönlich“ (1955) antreffen kann. Das ist aber vermutlich den italienischen Zuschauern kaum aufgefallen, da der Film ohnehin größtenteils nachsynchronisiert wurde, nicht zuletzt wegen der beteiligten französischen Darsteller, wie eben Alain Delon, Annie Girardot, Suzy Delair und Roger Hanin. Nach seinem Statistenauftritt in Viscontis „Weiße Nächte“ (1957) hat Corrado Pani hier eine etwas größere Rolle bekommen und man kann deutlich die Narben einer Hasenscharten-Entfernung sehen. Oder hat man die ihm etwa in „Rocco und seine Brüder“ extra für seine Rolle angeschminkt, denn aus „Weiße Nächte“ kann ich mich an diese Narben nicht erinnern. Eine weitere kleine Rolle als eine von Roccos Kolleginnen fiel Adriana Asti zu, die man später in „Klassikern“ wie Giorgio Capitanis „Ein Glücksschwein muss kein Ferkel sein“ (1973), Pasquale Festa Campaniles „Die Sexmaschine“ (1975) oder in Tinto Brass‘ „Caligula“ (1979) und „Sodom 2000“ (1980) sehen konnte.

 

Kein Visconti-Film ohne Homosexualität, das ist Gesetz! Als Simone Parondi schon ziemlich am Boden ist, lässt er sich von seinem Boxmanager (Nino Castelnuovo?) aushalten. Dem ersten Koitus (den man natürlich nur erahnen kann, schließlich schreiben wir das Jahr 1960) geht ein Faustkampf zwischen den Beiden voraus. Apropos 1960 – als Ruggero Deodato mal gefragt wurde, welchen Film er für den Gewalttätigsten aller Zeiten halte, antwortete Deodato mit „Rocco und seine Brüder.“ Heutzutage ist das vielleicht schwer nachzuvollziehen, aber man stelle sich den Schock der Zuschauer beim Filmfest in Venedig 1960 vor. Ein S/W-Drama, in dem ein verliebter junger Mann (Rocco) gezwungen wird zuzuschauen, wie seine Angebetete von seinem älteren Bruder vergewaltigt wird! Und nein, es wird nicht abgeblendet. Genauso wenig wie bei der zweiten Gewaltspitze, wo Simone Nadia mit mehreren Messerstichen tötet, während Simone, um ihr Leben flehend, davonzukriechen versucht.

 

Obwohl „Rocco und seine Brüder“ in Venedig preisgekrönt wurde und Kritiker voll des Lobes waren, musste der Film dann vor der Veröffentlichung für ein breiteres Publikum Federn lassen, ein paar Zusätzliche obendrauf in Deutschland. Erst 1993 wurden die fehlenden 15 Minuten in einer ZDF-Restauration in Deutschland wieder eingefügt. In Italien erfolgte eine Komplettfassung erst 2015 – unter Mitarbeit des damaligen Chefkameramanns Giuseppe Rotunno – in Form einer 4k-Restauration, die noch auf eine deutsche Veröffentlichung wartet. Ob die zwei zusätzlichen Szenen dieser 4k-Version (Lauflänge dieser Fassung knapp 180 Minuten) bereits auch in der ZDF-Fassung, bzw. der Arthaus-DVD vorhanden sind, ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass in der alten deutschen Kinofassung etliche Szenen viel früher abgebrochen wurden, ob ganze Szenen fehlten, keine Ahnung.

 

Und nun zum Schluss (und nach viel zu vielen Buchstaben, die mittlerweise vor meinen Augen eine Tarantella tanzen) die Wehrmutstropfen, mit denen man aber weitgehend leben kann. Visconti hat „Rocco und seine Brüder“ in fünf Kapitel unterteilt, wie auch in meiner Inhaltsangabe geschehen, jedes nach einem der Brüder benannt. Und das hätte er sich schenken können, denn spätestens mit „Ciro“ und „Luca“ funktioniert das nicht mehr so recht. Denn die Geschehnisse sind fließend, die Geschichten der einzelnen Brüder gehen natürlich ineinander über. Und Ciro hat seinen großen Auftritt nicht in dem ihm gewidmeten Kapitel, sondern erst im darauf folgenden „Luca.“ Und Luca selbst hätte im Grunde gar kein eigenes Kapitel gebraucht, seine einzige Bedeutung liegt in seiner ungewissen Zukunft. Ziemlich versiebt (oder war das etwa Absicht?) mutet die große finale Szene an, in der Simone nach dem Mord an Nadia auf Rocco und seine übrige Familie trifft. Operettenhafte Theatralik, die schon absurd komisch wirkt, Simone weint auf dem Bett, am Boden zerstört, Rocco liegt auf ihm, weint angesichts seiner Hilflosigkeit, die aus seiner gutmütigen Familienloyalität geboren ist, die Mama schreit, Ciro will zur Polizei und wartet auf seiner Vespa mit laufendem Motor, da Alain Delon etwas zu lange braucht, um durch die gläserne Haustür zur Straße zu brechen und fährt erst dann ab, als Delon ihn schon fast erreicht hat – er hätte längst weg sein können.

 

Oh, kein schmissiger Abschluss für eine Review. Hm, was mache ich jetzt? Genau, noch ein paar Namen reinschmeißen: die Musik von „Rocco und seine Brüder“ stammt weitgehend von Nino Rota. Wie in den meisten Visconti-Filmen wurde diese aber zusätzlich durch Musik von klassischen Komponisten versetzt. Kameramann Giuseppe Rotunno wurde unter anderem unterstützt von Franco Delli Colli, Nino Christiani und Silvano Ippoliti.

Filmplakate

Links

OFDb

IMDb

Bitte Kommentar schreiben

Sie kommentieren als Gast.