Arcana

Italien, 1972

Alternativtitel:

O Poder do Exorcismo (BRA)

Deutsche Erstaufführung:

28. Juli 2017

Regisseur:

Giulio Questi

Inhalt

Die verwitwete Signora Tarantino lebt gemeinsam mit ihrem Sohn in einem schäbigen Mailänder Wohnblock. Da das gemeinsame Geld (die Entschädigung für den tödlichen Arbeitsunfall ihres Gatten) nicht ausreicht, um einigermaßen gut über die Runden zu kommen, verdient sich Signora Tarantino das dringend benötigte Zubrot als Wahrsagerin. Der junge Tarantino ist von jener Scharlatanerie, mit der seine Mutter den betuchten Kunden eine stattliche Summe Lire aus der Tasche zieht, angewidert. Darüber hinaus und konträr zur Kurpfuscherei der Spökenkiekerin will ihr Filius nun die wahren Mächte der schwarzen Magie ergründen. Viel zu spät erkennt Signora Tarantino, dass ihr Sohn …

Review

„Dieser Film ist keine Geschichte, sondern ein Kartenspiel. Aus diesem Grund sind sowohl der Anfang als auch das Nachwort nicht glaubwürdig. Sie sind die Spieler. Spielen Sie klug und Sie werden gewinnen.“

 

Um seine radikalen Vorstellungen zu visualisieren, besaß Giulio Questi, dessen politische Überzeugungen im allegorischen Sinn ganz weit backbord neben dem Merkur angesiedelt sind, den Mut, die geordneten Bahnen wie Wege zu verlassen und das ein ums andere Mal seine finanzielle Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Demzufolge ist ARCANA an den italienischen Kinokassen auch gnadenlos abgeschmiert. Im Zuge dieses finanziellen Desasters wurde der Film erst gar nicht ins Ausland verkauft und erhielt demgemäß auch keine Chance, um sich in den bundesrepublikanischen Lichtspielhäusern zu beweisen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätten die deutschen Verleiher eh dieselbe finanzielle Bauchlandung erlebt wie ihre italienischen Kollegen, die angeblich alle 35mm Filmkopien - bis auf eine - vernichteten.

 

Und das, obwohl der Film in den frühen 1970ern deutlich bessere Chancen besaß, als es heute der Fall wäre. Schließlich erfreute sich dereinst die Musik von Pink Floyd einer übergroßen Beliebtheit, LSD und Psychedelic hallten noch nach und Rap war anno dazumal ein noch unbekannter Zustand und erst deutlich später aufkeimendes Ärgernis. Es steht mir notabene frei zu behaupten, dass das Kinopublikum 1972 (ARCANA´s Erscheinungsjahr) - also 27 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und rund 3 Jahre vor Punk - intelligenter wie aufgeschlossener, ergo für experimentelle Filme besser geeignet war.

 

Die mittels des Einleitungszitats (mit dem auch ARCANA an den Start geht) angesprochenen Spieler lassen sich derzeit freilich ausnahmslos innerhalb der eingeschworenen Anhängerschaft des italienischen Genrekinos ausfindig machen. Aber auch dieser cinephile Fankreis wird zahlreiche Mitglieder inkludieren, die ARCANA überfordern und zu abwertenden Urteilen verleiten wird. Daraus resultiert die Daumenregel: Diejenigen, die nicht den Mut besitzen, sich auf ein Wagnis einzulassen beziehungsweise diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich einer Herausforderung zu stellen, sind chancenlose Spieler, die das Spielrund in ihrem eigenen Interesse auch augenblicklich verlassen sollten.

 

Ich kann nicht beantworten, ob Ihnen folgendes Gefühl bekannt ist. Sie schauen einen Film, können dessen Sinn vorerst nicht entschlüsseln und stellen sich die nachfolgenden Fragen:

 

- Bin ich über- oder unterfordert?

- Was tue ich mir da überhaupt an?

- Verschwende ich evt. wertvolle Lebenszeit?

 

Nachdem der Film vorüber ist und Sie keine Antwort auf Ihre Fragen erhalten haben, schwingt urplötzlich ein überdimensionaler Hammer in die Richtung ihres Kopfes. Hammer und Schädel prallen gegeneinander und es rumort und scheppert in allen Ecken und Winkeln. Simultan zum Zusammenprall wird ein Impuls ausgelöst, der Ihnen unmissverständlich zu verstehen gibt, was für ein grandioses Filmerlebnis Sie doch eben durchlaufen haben.

 

Eine solche Erfahrung habe ich mit dem – ich nenne ihn mal – Club der 1970er gemacht, denn WILLKOMMEN IN DER HÖLLE (1970, Cesare Canevari), I CANNIBALI (1970, Liliana Cavani) wie ZABRISKIE POINT (1970, Michelangelo Antonioni) evozierten in mir erst einige Stunden nach der Sichtung eine enorme Euphorie, die mich begreifen ließ, dass ich kürzlich etwas ganz Besonders gesichtet habe.

 

Wie die genannten Filme, im Besonderen I CANNIBALI, besitzt auch ARCANA die Qualität eines Mindgame-Movie, da – nachdem der Film schlussendlich gesickert ist – das Bedürfnis emporsteigt, sich diesen noch einmal anzuschauen. Jenes Bedürfnis ist der Vermutung geschuldet, dass man manch Feinheiten der Bildsprache bei der Erstsichtung schlichtweg nicht erfassen konnte. Und fürwahr: ARCANA ist mit Symbolen nahezu überladen, sodass man die Flut von Allegorien respektive Metaphern nur mittels weiterer Sichtungen erfolgreich aufsaugen und rezipieren kann.

 

Signora Tarantino lebt mit ihrem Sohn in einem heruntergekommenen Wohnblock zu Mailand. Dort verdient sie als Hellseherin das dringend benötigte Zusatzbrot und empfängt einen stattlichen Kundenstamm zur Gruppenseance oder – sofern es sich um gut betuchte Kunden handelt – zum zukunftsweisenden und individuell abgestimmten Kartenlesen. Der junge Tarantino, dessen Vornamen wir nicht erfahren, mag die ein- und ausgehende Kundschaft ebenso wenig wie die Scharlatanarie seiner Mutter. Ergo treibt er während der Seancen allerhand Schabernack und prognostiziert den Kunden eine erschreckende Zukunft, was die „Wahrsagerin“ postwendend erzürnt, da sie sich nun mal nicht gern ins Handwerk pfuschen lässt. Das mag zwar nach dem Stellenprofil eines Eulenspiegelei betreibenden Narren klingen, doch hinter dieser Fassade steckt ein extrem suspekter Zeitgenosse. Ein androgyner Typ, der sich hin und wieder in Frauenkleidung hüllt und Grimassen schneidend sein Spiegelbild inspiziert. Man kann das äußere Erscheinungsbild des jungen Tarantino mit dem von Ziggy Stardust, der von David Bowie geschaffenen Kunstfigur, einem androgynen Außerirdischen, dem eine riesige Schar von Jüngern zu Füßen liegt, vergleichen. Bowie wog zum Entstehungszeitpunk von ARCANA (1972) gerade mal 50 Kilo, ernährte sich von Kokain, Milch sowie rund 60 Gitanes pro Tag und lebte zeitweise wie ein Vampir. Viel mehr als 50 Kilogramm Körpergewicht brachte Young-Tarantino-Darsteller Maurizio Degli Esposti auch nicht auf die Waage und er war ebenso blass wie seinerzeit Bowie. Und um die Figur besonders skandalös fertig zu zeichnen, unterhält der für uns Vornamenlose Tarantino-Sohn ein inzestuöses wie sadomasochistisch gefärbtes (Signora Tarantino scheint den Schmerz mittels leichter Messerschnitte zu erregen) Verhältnis zu seiner Mutter.

 

Dieser obskure Zeitgenosse findet freilich seine Umwelt abscheulich. Er bewegt sich wie ein Fremdkörper durch die Straßen. Er schaut, beobachtet, ist irritiert wie angewidert, kann damit allerdings keine Gegenreaktionen auslösen und wird von seinen Mitmenschen kaum bis überhaupt nicht beachtet. Er macht in der Öffentlichkeit den Eindruck eines illegalen Besuchers auf einem fremden Planeten. Auch hier fällt (mir) eine weitere Parallele zu Bowie, der in Roegs DER MANN, DER VOM HIMMEL FIEL als Außerirdischer (Thomas Jerome Newton) auf die Erde kommt, um Wasser für seinen Planeten zu finden, auf. Die Suche des jungen Tarantino hat einerseits das Ziel, das Grau um das ominöse Ableben seines Vaters aufzuhellen, andererseits soll sie die Mächte der Schwarzen Magie ergründen, wobei der Suchende seine eigenen übersinnlichen Fähigkeiten kennen lernt.

 

Mit seinem Fortschreiten bricht der Film übrigens alle Brücken hinter sich ab. Dem klugen Spieler, der freilich keiner falschen Fährte gefolgt ist und sich erst recht nicht aufs Glatteis führen ließ, wird somit bewusst respektive bestätigt, dass mit dem Erreichen des Zielorts die Rückkehr zum Ausgangspunkt unmöglich ist - denn es ist alles gesagt wie auch getan. Alle Vorgänge sind irreversibel und werden katastrophale Schäden davontragen.

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